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2025

 

Materialismus

 

Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, 1995,  Seite 788-791.

 

P1030854-Enzyklopädie Bd.2 - B560

 

Der Enzyklopädie-Artikel stammt von Oswald Schwemmer, Marburg

 

Materialismus (systematisch)

(Gegenbegriff: Idealismus), seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendeter Terminus für eine philosophische Position, „die geistliche Substanzen leugnet und keine andere, als körperliche zulassen will“, (…)

(S. 789)

(J.G. Walch, Philosophisches Lexicon [1726], Leipzig 41775 [repr. Hildesheim 1968], II, 62).

(…)

Der Materialismus im Sinne einer Argumentationstendenz kann durch drei Postulate charakterisiert werden, die sich als die Prämissen der verschiedenen Materialismus-Konzeptionen verstehen lassen und die auch für die Selbstdarstellungen der Materialisten, zumeist in Form selbstverständlicher Unterstellungen, eine große Rolle spielen.

    • (1) Das Postulat der theoretischen Rationalität:
  • Alle Erklärungsmittel – sowohl die unterstellte Existenz der grundlegenden Kräfte, Elemente oder Strukturen als auch die Erklärungsmethoden – müssen ebenso überblickt werden können wie die Erklärungsgegenstände. D.h., es dürfen weder verborgene Mächte noch geheimnisvolle Zusammenhänge, weder unerkennbare Faktoren noch ‚jenseitige‘ bzw. ‚transzendente‘ Verursacher in einer Erklärung vorkommen. F. Engels [der Kompagnon von K. Marx; Anmerkung MA] versteht dies als Beharren darauf, „die Welt aus sich selbst zu erklären“ (Dialektik der Natur, Einleitung, MEW XX, 315).

Als praktischer Kontext zeigt sich damit vor allem eine atheistische Argumentationstendenz, gemäß der einer Berufung auf göttliches Wirken jede Erklärungskraft abgesprochen wird.

Theoretisch ist die postulierte Rationalität, weil sie sich durch einen unbeteiligten Überblick (‚theoria‘) ergeben soll und so die Einseitigkeiten eines Beteiligten vermeiden zu können glaubt. Rational wird diese Theorie dadurch, daß in ihr dem Denken einsichtige Ordnungen im Ablauf der Geschehnisse und Zusammenhang der Dinge entdeckt werden, in denen alltäglich vertraute und überschaute Abläufe und Zusammenhänge wiedererkennbar sind. –

    • (2) Das Postulat der subjektlosen bzw. übersubjektiven Objektivität
  • Im Anschluss an (1) erfordert theoretische Rationalität den Ausschluss der Einseitigkeiten subjektiver Einschätzungen. Nur das, worin alle Menschen in ihren Empfindungen gleich sind und fast wie (Meß-)Apparate funktionieren (und am besten durch diese ersetzt werden), kann eine verläßliche, ‚objektive‘ Grundlage des Wissens über die Welt (einschließlich unserer selbst) liefern. Nicht Übereinstimmung von Gründen oder Argumentationen – mit denen auch subjektive Überzeugungen vergegenwärtigt werden  –, sondern die Ausblendung alles individuell Verschiedenen und in diesem Sinne Subjektiven (nicht Gemeinsamkeit, sondern Gleichheit) gewährleistet allein die Objektivität des Wissens.
    • (3) Das Postulat der reduktionistischen Uniformität:
  • Gemeint ist die Forderung, alle Erklärungen gleichförmig zu geben, und zwar durch den schrittweisen Aufbau komplexer und verschiedenartiger anschaulicher Abläufe und Zusammenhänge aus gleichartigen elementaren Geschehnissen und Dingen (-> Reduktion).

 

Die Postulate (1)-(3) werden meist nicht im einzelnen diskutiert, sondern als Kriterien der Rationalität, Objektivität und Uniformität bzw. Einheit der Welt und der Vernunft oder auch schlichtweg der Wissenschaftlichkeit unterstellt.

Die materialistischen Positionen ergeben sich aber erst aus der Verbindung dieser Postulate mit bestimmten Interpretationen, die im Materialismus wiederum nicht als eigene Begründungsschritte oder Entscheidungen auftreten, sondern zumeist als mit diesen Postulaten identisch oder aus ihnen folgend verstanden werden: Z.B. die mechanistische Interpretation theoretischer Rationalität, wonach nur deutungsfrei darstellbare, unabhängig vom menschlichen Handeln bestehende Abläufe und Zusammenhänge, nur ‚Mechanismen‘ überblickbare Ordnungen sind.

Besonders auf die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts hat dieses mechanistische Inter-

(S. 790)

pretation der theoretischen Rationalität eine große Faszination ausgeübt (…). Auch die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts (…) behaupten die Analogie menschlichen Denkens, Wollens, Empfindens und Handelns zum Funktionieren einer Maschine und berufen sich dabei zugleich auf die Wissenschaftlichkeit oder (theoretische) Rationalität dieser Erklärungsanalogie. (…)

 

Die subjektlose Objektivität wird im Materialismus zumeist zugleich empiristisch und realistisch interpretiert. [Anmerkung MA: das sind philosophische Fachausdrücke.] Nur die elementaren und im Prinzip auch über Meßapparate gewinnbaren sinnlichen Wahrnehmungen gewährleisten verläßliche, weil deutungsfreie und so von subjektiver Willkür unabhängige Darstellungen der Wirklichkeit.

Damit eng verbunden oder vermischt ist eine Abbildtheorie der Erkenntnis, wonach die Wirklichkeit nicht erst durch die Erkenntnisleistung (so I. Kant) zu einer strukturierten Realität wird. Auch diese Interpretation wird, sofern sie überhaupt thematisiert wird, als unmittelbare Folgerung aus dem von den Naturwissenschaften angeblich bestätigten Postulat objektiver Wissenschaftlichkeit angesehen. So sieht W.I. Lenin den ‚Eckpfeiler‘ des wissenschaftlichen Bewußtseins, an dem die ‚Professorenphilosophie‘ zerschellt, in einem ‚naturwissenschaftlichen Materialismus‘, nämlich in der „Überzeugung der ‚naiven Realisten‘ (d.h. der ganzen Menschheit), daß unsere Empfindungen Abbilder der objektiv realen Außenwelt sind“ (Materialismus und Empiriokritizismus, Werke XIV, 355): „Die ‚naive‘ Überzeugung der Menschheit wird vom Materialismus bewußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht“ (a.a.O., 62).

 

Das Postulat der reduktionistischen Uniformität, das Streben nach einer Einheit von Vernunft und Welt und einer Einheitlichkeit aller Erklärungen und Erklärungsgegenstände, wird in einem engeren Sinne mit Blick auf den antiken Atomismus materialistisch wie folgt interpretiert: Nicht gestaltete Zusammenhänge von differenzierten Eigenschaften oder geleitete oder gerichtete Abläufe sinnvoller Ereignisse und Handlungen, sondern ein – bis auf raum-zeitlich darstellbar Unterschiede – qualitätsloses Substrat liefert den einheitlichen ‚Stoff‘, aus dem die Mannigfaltigkeit der erscheinenden Wirklichkeit zu erklären ist.

Dagegen treten am neueren Materialismus unterschiedliche Begriffe von Materie und in ihr enthaltenen ‚höheren‘, sonst dem ‚Geist‘ oder der ‚Seele‘ zugeschriebenen Eigenschaften auf.

(…)

Materialistische Reduktionen im Rahmen des Leib-Seele-Problems stellen der Behaviorismus und die Identitätstheorie, ferner, mit Einschränkungen, der Epiphänomenalismus dar.

(…)

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Kommentar von mir (MA) zu den dargelegten Ausschnitten aus dem Enzyklopädie-Artikel über das Thema ‚Materialismus‘.

Das erste Postulat hat es mit der atheistischen Argumentationstendenz zu tun, gemäß der einer Berufung auf göttliches Wirken jede Erklärungskraft abgesprochen wird.

Dieses Postulat halte ich für akzeptabel.

Interessant wird es beim zweiten Postulatder subjektlosen bzw. übersubjektiven Objektivität“. Damit wird praktisch allem, was irgendwie mit Introspektion und damit der Selbstreflexion zu tun hat, die wissenschaftliche Berechtigung abgesprochen. Diese Aburteilung in Richtung Unwissenschaftlichkeit betrifft dann auch die Psychoanalyse. Und eigentlich generell die Sozialwissenschaft, soweit sie keine mathematischen Modelle entwickelt (wie in der Ökonomie) oder statistische Untersuchungen anstellt (wie in der Statistik-Psychologie).

Aus diesem materialistischen Postulat ergibt sich dann die Ignoranz vieler naturwissenschaftlich orientierter Leute gegenüber soziologischen, famliendynamischen, pädagogischen, historischen Erkenntnissen oder auch beispielsweise gegenüber der Friedensforschung und vieles andere mehr in dieser Art von Forschungs-Richtungen.

Diese Ignoranz findet ihre Fortsetzung in dem dritten Postulat, bei dem es um den Reduktionismus geht. Beispielsweise gibt es ja bei vielen naturwissenschaftlich orientierten Leuten die Grundvorstellung, letztlich alles auf Physik zu reduzieren. Also zunächst die gesellschaftlichen und psychologischen Prozesse auf die Gehirnfunktionen zu reduzieren, diese wieder auf Biologie, Chemie, usw.

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BING: Der **Physikalismus** ist eine philosophische Position, die davon ausgeht, dass *alles, was existiert, letztlich physischer Natur ist* – also durch die Begriffe, Gesetze und Theorien der Physik erklärbar oder zumindest davon abhängig ist.

### Kerngedanken des Physikalismus:

- **Monismus**: Es gibt nur eine grundlegende Art von Entitäten – die physischen. Damit steht der Physikalismus im Gegensatz zum **Dualismus**, der Geist und Materie als getrennte Substanzen betrachtet.

 

- **Schichtenmodell**: Die Welt besteht aus verschiedenen Ebenen (z. B. Moleküle, Zellen, Organismen), die sich alle auf eine fundamentale physikalische Basis zurückführen lassen – etwa auf Elementarteilchen.

 

### Varianten:

- **Reduktiver Physikalismus**: Mentale Zustände *sind* physikalische Zustände (z. B. Gehirnprozesse).

- **Nicht-reduktiver Physikalismus**: Mentale Zustände *basieren* auf physikalischen, lassen sich aber nicht vollständig auf sie reduzieren.

- **Token- vs. Typ-Physikalismus**: Einzelne mentale Ereignisse (Token) oder ganze Arten von mentalen Zuständen (Typen) sind physikalisch.

 

### Historischer Kontext:

Der Begriff wurde im 20. Jahrhundert von Philosophen wie **Otto Neurath** und **Rudolf Carnap** im Rahmen des **logischen Empirismus** geprägt. Ziel war es, eine einheitliche wissenschaftliche Sprache zu schaffen, die alle Phänomene – auch psychologische oder soziale – in physikalischen Begriffen ausdrücken kann.

 

### Kritik:

- **Bewusstsein**: Viele argumentieren, dass subjektive Erfahrungen (Qualia) sich nicht vollständig physikalisch erklären lassen.

- **Emergenz**: Einige Philosophen schlagen vor, dass mentale Phänomene aus physikalischen Prozessen „emergieren“, aber nicht auf sie reduzierbar sind.“

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Im Behaviorismus gilt als psychologische Wissenschaft nur das äußere meßbare Verhalten.

BING: „Der Behaviorismus ist eine psychologische Richtung, die sich auf das **beobachtbare Verhalten** konzentriert und innere mentale Prozesse weitgehend ausklammert. Hier sind die zentralen Grundprinzipien:

1. **Reiz-Reaktions-Modell (S-R-Modell)**: Verhalten wird als direkte Reaktion auf einen äußeren Reiz verstanden. Was im Inneren des Menschen passiert, wird als „Black Box“ betrachtet und nicht analysiert.

2. **Konditionierung als Lernmechanismus**:

   - *Klassische Konditionierung* (nach Iwan Pawlow): Ein neutraler Reiz wird durch wiederholte Kopplung mit einem bedeutungsvollen Reiz zu einem Auslöser für eine bestimmte Reaktion.

   - *Operante Konditionierung* (nach B.F. Skinner): Verhalten wird durch Konsequenzen geformt – Belohnung verstärkt es, Bestrafung schwächt es.

3. **Lernen durch Verstärkung**: Wiederholungen und Konsequenzen (positiv oder negativ) beeinflussen, ob ein Verhalten häufiger oder seltener gezeigt wird.

4. **Umwelt als formende Kraft**: Der Mensch wird als Produkt seiner Umwelt gesehen – Verhalten entsteht durch äußere Einflüsse, nicht durch angeborene Eigenschaften oder innere Prozesse.

5. **Ablehnung der Introspektion**: Subjektive Erfahrungen wie Gedanken oder Gefühle gelten als unwissenschaftlich, da sie nicht objektiv messbar sind.“

 

 

 

 

 

 

 

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